2010 hatte Dr. Brit Scholz zusammen mit dem mittlerweile verstorbenen Hans-Peter Kühn in Erlabrunn eine Defi-Selbsthilfegruppe gegründet. Mit viel Engagement und der psychokardiologischen Expertise von Dr. Scholz entwickelte sich daraus Stück für Stück ein Angebot mit nachhaltigem Nutzen für herzkranke Menschen: Seit 2016 besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem damaligen Oberarzt und heutigen Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Herrn MUDr. Smalo. Die beiden Ärzte begannen mit gemeinsamen Visiten in der Kardiologie, eröffneten durch Einbindung der Psychokardiologie in die Psychosomatische Institutsambulanz ein Angebot, bei dem pro Woche 3-4 Patient*innen über insgesamt 15 Wochen ambulant betreut werden. Seit 2019 existiert auf der kardiologischen Station eine offene Herz-Gruppe, die jeden Mittag Übungen aus der Physiotherapie mit einem Gesprächskreis kombiniert. 2022 schließlich startete die erste, stationäre psychokardiologische Herzgruppe mit 9 Herzpatient*innen mit unterschiedlichsten kardialen Grunderkrankungen, die jeweils vier Wochen lang auf einer psychosomatischen oder auf der kardiologischen Station wohnen und eine geschlossene Therapiegruppe bilden. Diese wird gemeinsam von der Kardiologin, Frau Dr. Scholz, und dem Facharzt für Psychosomatische Medizin/Psychotherapie und Psychiatrie, Herrn MuDr. Smalo, geleitet und betreut. Innerhalb dieses vertrauensvollen und einfühlsamen Rahmens sollen Herzpatient*innen die Bedeutung ihrer Herzerkrankung verstehen, symptomauslösende Stresssituationen erkennen und ihre Ressourcen einschätzen lernen. Ziel ist, sich emotional zu entlasten und mit Stress besser umzugehen, so dass sich in der Folge ihre Lebensqualität verbessert und positiv auf ihre körperliche Gesundheit auswirkt. Dieses Konzept kommt gut an, so dass 2024 bereits zwei Therapiegruppen an den Start gehen sollen. Nach dem Umbau und der Renovierung der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie wird die stationäre Psychokardiologie dort ihren festen Platz finden.

Um wen kümmert sich die Psychokardiologie?

„Wir wollen helfen, der wortlosen Stimme unseres Körpers zu lauschen.“ Ganz im Sinne des amerikanischen Psychotraumatologen Peter A. Levine* wendet sich die Psychokardiologie an Menschen, die aufgrund ihrer Herzkrankheit oder den damit verbundenen Erlebnissen und Erfahrungen seelisch belastet sind und ihre Krankheit bislang nur schwer oder gar nicht bewältigen können. Oder auch anders herum: an Menschen, die stressbelastet sind und dadurch eine Herzkrankheit entwickelt haben. Viele Defi-Patienten wissen nur zu gut, worum es geht: Von der Skepsis gegenüber einer Therapie über die Angst vor Komplikationen bis zu dem Gefühl, einem Gerät hilflos ausgeliefert zu sein, kennen sie die gesamte Bandbreite stressauslösender Situationen. Als Querschnittsdisziplin geht die Psychokardiologie deshalb über die reine kardiologische „Versorgung“ hinaus. So beinhaltet der Wochenplan einer festen Gruppe in Erlabrunn nicht nur gemeinsame Therapiegespräche, sondern unter anderem Einzelgespräche, Ergotherapie, Physiotherapie Bewegungsangebote wie Nordic Walking, Gymnastik oder Trommeln. Viele Teilnehmende, so die Erfahrungen von Dr. Scholz, erlebten genau diese Form der kardiologischen und psychologischen Betreuung, gepaart mit der Anwesenheit „wissender“ und mitfühlender Menschen, als wohltuend und heilsam.

Wie entsteht Stress und was folgt daraus?

Alle Reize, die von unserem Körper eine Anpassung verlangen, bezeichnet man als Stressfaktoren oder Stressoren. Das können Personen und Situationen sein, aber auch Umweltreize, Gedanken oder Gefühle. Konkret für Herzpatient*innen formuliert, können dies zum Beispiel die Begegnung mit Ärzt*innen, Defi-Kontrollen, extreme Sommerhitze, die Abwägung für oder gegen eine Ablation oder auch die Angst vor einem Defi-Schock sein. Stressoren wirken also nicht nur von außen auf uns ein, sondern können auch aus unserem Körper oder Geist selbst stammen. Der Prozess, der eine Stressreaktion auslösen kann, lässt sich vereinfacht so beschreiben: Wir geraten in eine Situation und bewerten diese. Kommt unser Gehirn zu dem Schluss, dass unsere Ressourcen ausreichen, um die Situation erfolgreich zu bewältigen, erleben wir positiven Stress (Eustress) und legen motiviert los. Kommt unser Gehirn aber zu dem Schluss, dass unsere Ressourcen nicht ausreichen könnten, löst es im gleichen Moment negativen Stress (Distress) aus. Distress entsteht also immer dann, wenn es zu einer Diskrepanz zwischen Anforderungen und Bewältigungskompetenzen kommt. Je höher diese Diskrepanz ist, desto belastender empfinden wir die Situation. Allerdings ist nicht die tatsächliche Diskrepanz maßgebend, sondern der individuell empfundene Unterschied. Auch das, was wir uns zutrauen, fließt in die Bewertung mit ein. Folglich können wir eine objektiv gleiche Situation subjektiv vollkommen unterschiedlich bewerten. Wir können sogar die gleiche Situation zu verschiedenen Zeitpunkten ganz unterschiedlich bewerten. Zum Beispiel, weil wir in der Zwischenzeit andere Perspektiven kennengelernt oder hilfreiche Verhalten trainiert haben, um ihr stressfreier zu begegnen.

Stress beginnt oft schon während der Kindheit

Psycho-soziale Belastungen, die bereits in der Jugend beginnen, können sich im Erwachsenenalter zu chronischen, biologischen Stressreaktionen ausbilden. Anhaltende Konflikte in der Familie, körperliche und seelische Misshandlungen, traumatische Erlebnisse, Vernachlässigung oder soziale Ausgrenzung sind Beispiele dafür. Die Folgen solcher Stresserfahrungen, so Dr. Scholz, seien zum Teil nicht mehr rückgängig zu machen und führten ungeachtet späterer Umstände zu Erkrankungen der Herzgefäße. Mehr noch: Im Alter addierten sie einander sogar mit Risikofaktoren wie Rauchen, Alkohol, mangelnder Bewegung oder Übergewicht. Im Ergebnis könne chronischer Stress zu Entzündungen sowie zu Funktionsstörungen der Gefäßwände führen, Plaque destabilisieren oder die Herzelektrik stören. Letzteres äußert sich zum Beispiel unter anderem als Vorhofflimmern.

 

*Nachtrag zu den Personen Bernhard Lown und Peter A. Levine

Bernard Lown war nicht „irgendein“ Kardiologe. Das Lown-Ganong-Lewin-Syndrom und die Lown-Klassifikation für Herzrhythmusstörungen sind nach ihm benannt. Er führte die Lidocain-Therapie ein, war an der Entwicklung der Kardioversion bei Vorhofflimmern beteiligt – und ein Friedensaktivist. Mit dem russischen Kardiologen Jewgeni Tschasow gründete er die Ärztevereinigung „International Physicians for the Prevention of Nuclear War“ (IPPNW), für die beide 1985 den Friedensnobelpreis entgegennahmen.

Peter Alan Levine (*1942) ist ein amerikanischer Biophysiker, Psychologe und Psychotraumatologe, der in den 1970er-Jahren begann, für Vietnam-Veteranen Gruppen anzubieten. Levine begründete mit Somatic Experiencing (SE) eine körperorientierte Methode zur Heilung von Traumata. 2010 erhielt er den „Lifetime Achievement Award“ der amerikanischen Vereinigung der Körperpsychotherapeuten.

 

Text: Birgit Schlepütz

Quellen: Vortrag von Dr. Brit Scholz

Weiterführende Literatur:
Peter A. Levine: Sprache ohne Worte - Die Botschaften unseres Körpers verstehen, Kösel Verlag, München, 2011
Bernard Lown: Die verlorene Kunst des Heilens. Anstiftung zum Umdenken; Schattauer GmbH, Stuttgart, New York, 2004